Sofern Sie sich nicht beruflich für eine pflegende Tätigkeit entschieden haben, wird das Eintreten
eines Pflegefalls in Ihrer Familie immer überraschend sein. In dieser Situation werden Fähigkeiten
von Ihnen gefordert, auf die Sie in Ihrem Leben nur wenig oder gar nicht vorbereitet wurden. Sie
müssen von Ihrem Leben Abstriche machen, die zu pflegende Person sehr weit oben in Ihrer
Prioritätenliste einordnen und Geduld entwickeln. Viel Geduld und Verständnis.
Der Unterschied zwischen beruflicher und privater Pflege
Arbeiten Sie im Pflegebereich, haben Sie nach Ihrer täglichen Arbeitszeit ein Privatleben. Obwohl
Ihre Patienten Sie emotional berühren, können Sie doch die meisten Gefühle zurücklassen, wenn
Sie nach Hause gehen. Anders sieht es bei der Pflege von Angehörigen aus, die völlig unvorbereitet
pflegebedürftig werden. Sie haben Ihr Leben mit ihnen geteilt und sind jetzt von ihren
Einschränkungen genauso betroffen. Im ersten Moment macht das Angst. Denn es geht nicht um die
natürliche Betreuung eines Babys. Ihre Angehörigen hatten ein Leben, das plötzlich eingeschränkt
ist. Sie haben Vorlieben und Abneigungen entwickelt und haben immer noch Wünsche und Ziele.
Plötzlich werden Sie zu der Person, die dafür Sorge trägt, dass es weitergeht. An Sie werden
(unausgesprochen) Erwartungen gerichtet und Sie stehen unter Druck, dem nachzukommen.
Immer für jemanden da sein (müssen)
Wenn Sie sich einen Lebenspartner wählen, gehen Sie eine freiwillige Bindung ein. Krankheiten und
Pflegefälle treten unerwartet auf und bringen die gesamte Lebensplanung durcheinander. Wird ein
Kind behindert geboren, ist auch das ein Schock und es braucht Zeit, sich damit zu arrangieren. In
dem Fall müssen Sie aber schon von Anfang an alle Planungen über den Haufen werfen und sich
umorientieren. Werden Eltern oder Partner pflegebedürftig, ändert sich Ihr Leben ebenfalls von
einem Tag zum anderen. Aber Sie waren darauf nicht vorbereitet. Zuerst spüren Sie Verzweiflung
über das Ereignis. Dann setzt sich sofort der Wunsch durch, Ihren Lieben zu helfen. Erst später
werden Sie erkennen, dass Sie nicht nur Ihr Leben, sondern auch Ihre Persönlichkeit verändern
müssen. Sie haben in der bestehenden Situation die Entscheidung zu treffen, dass sich Ihr Leben
jetzt um die pflegebedürftige Person drehen wird. Bis an deren Lebensende. Dieser Gedanken macht
Angst. Denn automatisch kommt die Frage auf: “Was ist mit mir?”
Sich für die Situation entscheiden
Sie werden sich gut um Ihre Angehörigen kümmern, wenn Sie die Entscheidung treffen, den
Bedürfnisse der zu betreuenden Person Priorität einzuräumen, ohne sich dabei selbst aufzugeben.
Ansonsten kommen Sie sehr schnell an den Punkt, an dem Sie sich trotz liebender Gefühle
verpflichtet fühlen, für Ihre Familienangehörigen zu sorgen. Wenn Sie an dieser Stelle Ihre
Lebensplanung ein wenig öffnen können und sich bisherige Ziele ein wenig verschieben oder ändern
lassen, kommen Sie mit der neuen Situation bestens zurecht. Die Person, die jetzt betreut werden
muss, hat ohnehin das Gefühl, von Ihnen abhängig geworden zu sein und Sie zu belasten. Deshalb
müssen Sie Ihre Prioritäten exakt klären, damit Sie reinen Herzens bei der Sache sind und nicht
das Gefühl haben, um Ihr eigenes Leben betrogen zu werden. Akzeptieren Sie die Situation und
versuchen Sie, alles so zu organisieren, dass auch Ihnen in Stück eigene Zeit bleibt, werden Sie an
dieser Situation wachsen.
Inneren Frieden finden
Manchmal wird uns erst hinterher klar, was wir aus bestimmten Lebensabschnitten mitgenommen haben.
Im Vorfeld wehren wir uns gegen Personen oder Umständen, nur um später festzustellen, dass wir
ohne all das nicht der Mensch geworden wären, der wir heute sind. Natürlich sollten Pflegefälle
nicht sein. Niemand möchte freiwillig physisch oder geistig eingeschränkt und von anderen Menschen
abhängig sein. Wenn die Situation doch eintritt, sollten Sie mit sich und den anderen geduldig
sein. Lehnen Sie sich gegen die Situation auf, weil Sie sich plötzlich eingeschränkt fühlen,
suchen Sie einen Freund auf oder holen Sie sich Hilfe bei ausgebildeten Menschen. Diese hören Ihnen
zu, denn das Herunterschlucken Ihrer Ängste und Frustrationen lässt die Situation irgendwann
eskalieren.
Sie müssen sich selbst gegenüber ehrlich sein. Der Mensch, den Sie betreuen, kann nichts dafür.
Ihr Kummer ist ebenfalls gerechtfertigt. Sie werden Abstriche machen müssen und Ihr Leben anders
gestalten, als Sie es sich ausgemalt haben. Den Ärger verdrängen oder am Gegenüber auslassen,
hilft weder Ihnen noch Ihren Familienmitgliedern. Es ändert auch nicht die Situation. Kümmern Sie
sich darum, dass Sie die Situation annehmen können. Dass Sie Ihren Frieden damit machen. Erst dann
können Sie die Liebe geben, die Ihr Gegenüber und Sie selbst brauchen.