Selbstbestimmung – immer wieder ein Thema (Teil 2)

Selbstbestimmung - immer wieder ein Thema (Teil 2)

Um sich näher an zuschauen, wo das Prinzip der Selbstbestimmung ansetzt und seine Grenzen hat, ist es interessant sich einmal die Faktoren anzuschauen, die in der amerikanischen Literatur als die Hauptfeinde im Altenpflegeheim bezeichnet werden: Routine, Regulierungen und restriktive Möglichkeiten der Autonomieverwirklichung.

Routine ist nicht per se etwas schlechtes, sie gibt auch Sicherheit und einen Rahmen. Allerdings birgt sie auch die Gefahr von Stagnation und Betriebsblindheit im täglichen Berufsalltag. Der feste institutionelle Rahmen eines Pflegeheims wird häufig als “Grund” angegeben, warum keine Rücksicht genommen werden kann auf die Wünsche und Bedürfnisse von Bewohnern. Es kann aber trotz diese immer nach Möglichkeiten gesucht werden, den Rahmen zu durchbrechen bzw. etwas zu bewegen.

Es geht nicht darum, jeden Wunsch zu erfüllen, sondern vielmehr um die Bereitschaft, Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensgestaltung zuzulassen und nichts als unhinterfragt einfach hinzunehmen. Routinen müssen aufgebrochen werden.

In einem Ausschnitt aus der Altenpflege (40.Jahrgang, S.71) finden wir ein Praxisbeispiel welches zeigt, wie konsequent die Orientierung am Willen des Bewohners sich darstellt, welchen Anspruch dies auch an die Pflegenden bedeutet und das es gilt auch Spannungen auszuhalten.

” Essen, nicht nur als Notwendigkeit zum Lebenserhalt, sondern auch als Lebensgefühl oder Lust verstanden, ist wohl für die meisten Menschen Gegenstand ihrer täglichen, autonomen Willensbildung: Was, wo, bei wem, wann oder mit wem möchte ich heute essen? Mit dem Einzug in ein Altenpflegeheim ist es damit schlagartig vorbei. Die Frage nach dem ‘was’ reduziert sich auf Menü 1 oder Menü 2, mit oder ohne Vorsuppe, Salat und Dessert. Das ‘wann’ ist im besten Falle in Zeitkorridore eingebunden. Als mögliche Orte des Geschehens verbleiben Zimmer, Tagesraum oder Cafeteria/Speisesaal. Und auf die Frage, wer mit am Tisch sitzt, haben die Bewohner nur bedingt Einfluss-der institutionelle Rahmen einer Einrichtung lässt eben nicht mehr zu. Zuletzt wurde von einem Pflegeheim berichtet, dass einen muslimischen Bewohner mit der Begründung nicht aufnahm, man könne kein Essen ohne Schweinefleisch anbieten. Das Argument mit dem institutionellen Rahmen stimmt zunächst. Es darf aber nicht unhinterfragt hingenommen werden. Dem Respekt vor der Autonomie der Bewohner geschuldet, kann nach Möglichkeiten gesucht werden, diesen gesetzten Rahmen zu durchbrechen-auch wenn es nur kleine Erfolge sind, die da zu erreichen sind:

  • Da ist die regelmäßige Speiseplanbesprechung mit Bewohnern und Heimbeirat, in der neue Ideen und Wünsche eingebracht werden-und sich auch auf dem Speiseplan wiederfinden!
  • Da sind zusätzliche Beilagen, welche die Auswahl vergrößern.
  • Da sind individuelle Kostarten, die nicht nur wegen medizinischer Notwendigkeit gekocht werden, sondern weil ein Bewohner es so will.
  • Da ist es nicht nur der Hinweis in den Bewohnerinformationen, sondern die tatsächliche regelmäßige Nachfrage nach Änderungswünschen zum Abendbrot mit dem Hinweis auf die konkreten Auswahlmöglichkeiten.
  • Da ist z.B. das echte Wunschessen zum Geburtstag.
  • Oder da ist die Tasse Kaffee in der Früh am Bett, weil es jemand sein Leben lang so geliebt und genossen hat.

Das alles macht aus einem Altenpflegeheim kein a’ la Carte Restaurant und ersetzt erst recht nicht die Küche zu Hause. Es zeigt aber, dass mehr möglich ist, um die Bewohner zu motivieren, ihren eigenen Willen zu bilden und zu äußern-und diesem auch nachzukommen-, als immer nur auf die engen Rahmenbedingungen zu verweisen.

Ein weiteres Beispiel für die Zumutungen der Autonomie, die ausgehalten werden müssen,ist das Beispiel von Frau A. 92 Jahre alt. (Komplettes Beispiel ist ebenfalls nachzulesen in der Altenpflege 40 Jahrgang, S.73 ff.)

“Frau A. 92 Jahre alt, war seit einigen Jahren Bewohnerin eines Altenpflegeheimes. Sie war ausgesprochen angenehm und geistig aufgeschlossen-und entsprechend beliebt bei den Pflegenden. Nach dem plötzlichen Tod einer langjährigen Zimmernachbarin artikulierte sie mehrfach, dass es nun für sie “auch so langsam an der Zeit sei”. In ihrem Verhalten und vielen Äußerungen war spürbar, dass die bisher so lebensfrohe Frau sich innerlich auf ihren Abschied vorbereitete. Infolge einer Gefäßerkrankung entwickelte sich bei ihr eine fortschreitende Nekrose an einer Ferse. Im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes wurde aufgrund des Befundes dringend zu einer Amputation geraten, da die Gefahr einer Sepsis und damit einer lebensbedrohlichen Situation bestand.

Nach umfänglicher ärztlicher Aufklärung und langer Beratung mit ihrer Familie entschied Frau A., im vollen Bewusstsein der Folgen und des Verlaufs, die Amputation abzulehnen. Nach Rückkehr ins Altenpflegeheim wurde die Situation mit ihr besprochen. Hausarzt und Pflegende klärten sie erneut über den zu erwartenden, weiteren Verlauf auf, sie blieb jedoch bei ihrer Haltung. Da Frau A. keinerlei kognitive Einschränkungen hatte, wurde ihr zugesagt, dass ihr Wille akzeptiert werde und im Weiteren eine schmerztherapeutische Begleitung durch den Hausarzt angesetzt. Entsprechend ihren Äußerungen zum Schmerzempfinden wurde die Medikation fortlaufend angepasst, die Wunde wurde vorbildlich versorgt, ein Lagerungsplan erstellt und umgesetzt und alles erdenkliche getan, um ihr den von ihr gewählten Weg unter Linderung der Symptome zu ermöglichen. Im Verlauf der nächsten Woche entwickelte sie ein Ernährungsproblem. Es kam zur erheblichen Gewichtsabnahme, und mit fortschreitender Verschlechterung ihres Allgemeinzustandes konnte sie kaum mehr aus dem Bett mobilisiert werden. Während dieser Zeit empfing sie Besuch von ihrer Familie, insbesondere von ihrer Tochter, die auch Vorsorgebevollmächtigte war, und von Freunden. Die Pflegenden dokumentierten den Verlauf ausführlich, vor allem Beobachtungen bezüglich mutmaßlicher verbaler und nonverbaler Willensäußerungen im Blick auf die gesundheitliche Situation. Bei den Visiten wurde die Frage immer wieder thematisiert, ohne Frau A. zu bedrängen, aber sie blieb bei ihrer Haltung.  Nach acht Wochen verstarb sie in Folge einer Sepsis.

Da wurde also “alles richtig gemacht””. Frau A. wurde in Gesprächen signalisiert, dass ihr Wille handlungsleitend für Ärzte und Pflegende ist. Sie wurde nicht nur einmal, sondern im Verlauf der Erkrankung mehrfach aufgeklärt und informiert, ihr Verhalten und ihre Äußerungen wurden aufmerksam beobachtet, im Team ausgetauscht und dokumentiert. Die Gründe für ihre Haltung wurden erfragt und interpretiert. Die Einwilligungs-und Entscheidungsfähigkeit wurde eingeschätzt, und die Bewohnerin konnte “ihren Weg” bis zum Ende gehen. So weit, so gut.

Nachgespräche mit der vorsorgebevollmächtigten Tochter eröffneten jedoch einen ganz anderen Blick auf diesen Fall: Bei all ihren Besuchen war sie sehr zufrieden mit der pflegerischen Versorgung und suchte stets das Gespräch mit den Pflegenden. Dabei wurde sie immer wieder mit Sätzen wie “eigentlich müsste man doch was machen”, oder “was meinen Sie, wie lange Sie das noch so gehen lassen wollen” konfrontiert. Je schlechter der Allgemeinzustand der Mutter wurde, desto massiver nahm sie die Bemerkungen einiger Mitarbeiterinnen aus dem Pflegeteam wahr. ” Von Woche zu Woche kam ich mit einem schlechteren Gewissen von den Besuchen meiner Mutter zurück, aber ich hatte ihr doch versprochen, dass wir alles dafür tun werden, ihren Willen zu achten”, äußerte sie im Gespräch. Was war passiert? Niemand hat hier böswillig gehandelt, und ganz gewiss wollte niemand der Tochter ein schlechtes Gewissen einreden. Vom “Kopf her” konnten die Pflegenden professionell umsetzen, was wir unter “Respekt vor der Autonomie” beschrieben haben. Emotional-und das entlud sich in den zitierten Äußerungen -hatte sich für einige von ihnen aber eine unerträgliche Situation entwickelt. Da hatte eine Bewohnerin für sich eine Entscheidung getroffen, die aus Sicht der Pflegenden ihrem eigenen Wohl abträglich war, und die Angehörigen unterstützten sie auch noch in dieser Haltung, ob gleich Frau A. doch aus medizinisch-pflegerischer Sicht “geholfen werden” konnte!

Im Hinblick auf die Achtung der Autonomie der Bewohnerin  ist dieser Fall nahezu mustergültig verlaufen, wenn da nicht noch dieser andere Blickwinkel wäre. An diesem Beispiel wird deutlich, was Respekt vor der Autonomie der Bewohner den Pflegenden, die sich dem Anspruch des Helfens und der Fürsorge verpflichtet sehen, in letzter Konsequenz abverlangt. Die eigene Fachlichkeit dem autonom gebildeten und geäußerten Bewohnerwillen hintan zu stellen-das ist im neutralen Gespräch und in einer Fortbildung jederzeit konsensfähig. In der konkreten Situation kann das zur Zumutung werden, welche Pflegende an ihre Grenzen führt. Da ist eine adäquate Begleitung gefragt, z.B. im Rahmen von retrospektiven Fallbesprechungen, um die Mechanismen, die hier unbewusst greifen, transparent zu machen und innere Haltungen, die das eigene Handeln und Verhalten bestimmen reflektieren. Und das gilt auch gegenüber einem nicht einwilligungsfähigen alten Menschen! Die Fürsoge von Angehörigen, Pflegenden und allen anderen Betreuenden darf nicht-sozusagen “durch die Hintertüre”-eine eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit eines Heimbewohners zur autonomen Willensbekundung ersetzen wollen. Fürsorge muss die Antwort auf das Hilfsbegehren eines Heimbewohners sein, der zwar Unterstützung im Entscheiden und Handeln braucht, dessen selbstbestimmter Lebensentwurf aber Grundlage und Verpflichtung allen pflegerischen Handelns sein muss.”

 

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